Zwei Teile eines Ganzen
Lisa und Tim sind zwölf Jahre alt und Zwillinge. Tim wurde mit dem Down-Syndrom geboren.
Als Lisa drei Jahre alt war, hatte sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie ihre Familie entstanden war, und die ging so: Lisa saß auf einer Wolke. Plötzlich entdeckte sie auf der Erde ihre Mutter und beschloss, zu der wolle sie in den Bauch. Dann sah sie Tim, der auf einer anderen Wolke saß. Und weil er ihr leidtat, dachte sie sich: Den nehme ich mit.
Als Babys, als Kinder, auch jetzt, als angehende Teenager: Die beiden seien immer eine Einheit gewesen, zwei Teile eines Ganzen, ein Paket. Sie spielen gern miteinander. Am liebsten Rollenspiele, Schneewittchen zum Beispiel. Dann ist Lisa ein Zwerg und Tim die böse Königin. Oder Lisa ist der Prinz und Tim Schneewittchen. Oder andersherum.
Inzwischen sind die Zuckers doch eine Art Bilderbuchfamilie geworden, und man weiß nicht, ob man sagen soll: trotz allem oder gerade deshalb. Ein Ingenieur und eine Historikerin mit amerikanischem Ph.D., zwei Autos, ein Reihenhaus mit Klinkerfassade in Mainz-Oppenheim, Erstbezug. Gehadert mit Tims Behinderung haben die Zuckers nie. Weil sein Herzfehler schon im Säuglingsalter schwere Operationen nötig machte, weil es monatelang um alles ging, waren die Eltern dankbar: Er lebte.
Trotzdem gab es Bemerkungen, wie sie für eine Gesellschaft typisch sind, in der Kinder mit Behinderungen dank verbesserter Pränataldiagnostik oft gar nicht geboren werden. „Hätte doch nicht sein müssen!“ Oder: „Habt ihr das denn nicht gewusst?“
Dazu: Termine, Termine, Termine. Logopädie, Ergotherapie, Arztbesuche, Krankengymnastik hier, Frühförderung da. Lisa hingegen? Manches ist untergegangen. „Sie hat alles immer so toll gemacht“, sagt Susanne Pohl-Zucker, und ihre Stimme klingt dabei sehr liebevoll. Früh gesprochen, früh gelesen, nie gab es Probleme in der Schule. Immer wieder bahnte sie damit auch ihrem Zwillingsbruder den Weg.